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Sonntag, 19. April 2015

Erneutes Massaker im Kanal von Sizilien. Rettungskräfte sprechen von 700 Toten


Meridionews

Die Anschuldigungen und Appelle überschlagen sich auf Grund dessen, was in wenigen Stunden das größte Unglück im Kanal von Sizilien werden könnte. Nachdem gestern Nacht ein 20 Meter langes Boot mit über 700 Personen an Bord  umkippte, bleibt die Bilanz der Rettungskräfte ernüchternd: 28 Überlebende und 24 Leichen, die aus dem Meer geborgen werden konnten. Nach Aussage einiges Zeugen brach das Boot von Ägypten auf und fuhr dann entlang der libyschen Küste, um Fahrgäste aufzunehmen, es sollen 950 gewesen sein. „Wir sind zu tiefst betroffen über die Tragödie, es braucht mutige Taten, um dieser grausamen Realität entgegen zu wirken,“ so die Antwort der europäischen Kommission auf die Ereignisse. Es waren lokale und nationale politische Kräfte, die sich nach dem Unglück an die  europäischen Kommission wandten. Die internationale Organisation hat ein Treffen der Innen- und Außenminister angekündigt. Das Ziel des Treffens ist es eine neue Strategie auszuarbeiten, die Ende Mai in Kraft treten soll.


Das Schiff befand sich gestern in libyschen Gewässern. Das Notrufsignal wurde von der italienischen Küstenwache empfangen, welche ein portugiesisches Handelsschiff aufforderte seinen Kurs zu ändern, um die Menschen an Bord zu retten. Als sich das Handelsschiff dem Boot näherte brach Panik unter den Migranten aus. Plötzlich begaben sich alle Insassen auf eine Seite des Bootes, welches daraufhin umkippte und zu sinken begann.

Die geretteten Migranten und die Körper der Passagiere, welche es nicht geschafft haben, konnten nach Catania gebracht werden. Dort hat die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Schiffbruch und mehrfacher fahrlässiger Tötung eingeleitet. Von Seiten des Innenministers kam noch keine Anordnung, aber der Bürgermeister von Catania, Enzo Bianco, hat die Verlegung der Migranten nach Catania bestätigt. „Die Rettungsaktion auf dem Meer ist noch im Gange,“ erklärt Michele Maltese von der Hafenbehörde in Catania gegenüber MeridioNews. „Im Moment wird alles von Rom aus koordiniert, zusammen mit den zuständigen Behörden in Palermo.“

Am Nachmittag wurde einer der Passagiere mit dem Helikopter zum Stützpunkt Maristaeli geflogen und ins Krankenhaus Vittorio Emanuele eingeliefert. Auf Grund seines schlechten Zustands war es den Ermittlern noch nicht möglich ihn zu befragen, dies wird erst geschehen sobald sich sein Gesundheitszustand verbessert hat. Die maltesischen Autoritäten haben Ministerpräsident Matteo Renzi bereits zugesichert, dass die 24 Toten nach Malta gebracht werden  können.

In der Zwischenzeit werden Rettungsmaßnahmen eingeleitet auch wenn nicht einmal das Rote Kreuz Anordnungen erhalten hat. „Aus dem Ministerium gibt keine offizielle Bestätigung,“ sagt Stefano Principato, Sprecher des italienischen Roten Kreuz Catania. „Allerdings ist seit 17.00 Uhr ein Schalter für Verwandte eingerichtet, wo sie Auskünfte erhalten können.“ Eine Hotline (389 3432063) und ein Emailkonto (rfl@cricatania.it) werden die Anfragen auch in arabischer und senegalesischer Sprache aufnehmen. Die Vereinigung Rete antirazzista (Antirassitisches Netzwerk) wird morgen ab 8.00 Uhr im Hafen sein.  

Die 28 Überlebenden befinden sich im Moment an Bord vier verschiedener Schiffe. 22 sind auf dem portugiesischen Handelsschiff King Jacob, welches als erstes Rettungsmaßnahmen vorgenommen hat. Auf der Gregoretti, einem Schiff der Küstenwache befinden sich zwei Personen, zwei weitere auf einem anderen Handelsschiff und die letzten zwei sind auf einem Militärschiff, welches mit den Rettungsarbeiten beschäftigt ist. „Sobald sie uns sahen wurden sie unruhig und das Boot kippte um. Unser Schiff ist nicht gegen das Boot gerammt,“ präzisiert der Kapitän des portugiesischen Frachters. Einer der Rettungskräfte bestätigt, „man sieht nur noch Dieselöl und Frackteile, seit heute 10.00 Uhr morgens haben wir nichts mehr gefunden.“ Unter den geborgenen Leichen soll auch ein Jungen zwischen 10 und 15 Jahren sein. „Er war einer der ersten, die wir bergen konnten. Mit dem Kopf nach unten lag er in einem Ölteppich.“

Gleichgültigkeit geht nicht. Diese Tragödien werden zur „Normalität“ und das ist nicht akzeptabel,“ so Kheit Abdelhafid, Imam von Catania und Präsident der muslimischen Gemeinschaft in Sizilien. „Ich hoffe, dass zumindest diese hundertste, ungeheure Flüchtlingstragödie, die größte, die die Menschheit je gesehen hat, Europas Bewusstsein wach rüttelt,“ erklärte der Bürgermeister von Catania, Bianco.

Sollten die aktuellen Zahlen bestätigt werden, handelt es sich bei diesem Schiffbruch um den höchsten Verlust  von Menschenleben von Flüchtlingen und Migranten, die je nach einem einzelnen Unglück im Mittelmeer gezählt wurden.“ Wie in einer Notiz des UN Flüchtlingshilfswerks vom UN Hochkommissar für Flüchtlinge in Erhebung gezogen: „dieser Vorfall folgt auf das Unglück der letzten Woche, als wir einen Verlust von 400 Menschenleben verzeichneten.“ Eine weitere Tragödie, jene von Lampedusa im Oktober 2013: „war Zeuge von 600 Toten in zwei separaten Bootsunglücken.“

„Es muss mit Entschiedenheit und in Eile reagiert werden, um ein Wiederholen dieser Unglücke zu verhindern,“ mit diesen Worten richtete sich Papst Franziskus auf dem Petersplatz an die internationale Gemeinschaft. „Es sind Männer und Frauen wie wir.“ Von Seiten der Politik kamen gleich die üblichen Protestchöre als Antwort auf das Handeln der EU angesichts ähnlicher Tragödien. Staatspräsident Sergio Mattarella hat unterdessen verkündet das Ereignis mit größter Aufmerksamkeit zu verfolgen.

Der Nationalrat des Arci schreibt in einer Mitteilung: „eine Tragödie deren genaue Verantwortlichkeit man in den ausgeführten Entscheidungen der italienischen und europäischen Institutionen finden kann.“ Die Körperschaft schlägt einen strengen Ton ein: „Wann wird man verstehen, dass sich Migrationsströme weder von den Schikanen der Todesschlepper noch von den Gefahren auf überfüllten und unsicheren Booten abhalten lassen? Wie viele Tote braucht es noch bis man sich entscheidet der Nachfrage nach der Öffnung von humanitären Kanälen gerecht zu werden und so jenen die vor Krieg und Gewalt flüchten, sichere Wege der Flucht anbietet?

Leoluca Orlando, der Bürgermeister von Palermo hat für Morgen einen Trauertag in seiner Stadt ausgerufen, diese Entscheidung wird auch von seinem Amtskollegen Bianco in Catania geteilt. Der Präsident des Anci hat angekündigt, dass die selbe Entscheidung von den 390 Gemeinden Siziliens getroffen wurde, „Morgen werden die Fahnen aller Verwaltungsgebäude auf Halbmast wehen“ erklärt er, „angesichts dieses regelrechten Blutbads kann man nicht gleichgültig bleiben und jeder, begonnen bei der EU und der internationalen Gemeinschaft muss Verantwortung übernehmen.“



Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner